Lawinenunfall bei Wintertour auf den Bodenschneid 1668 m

Sind die Berge schon im Sommer faszinierend, so ist eine Winterbegehung die Königsdisziplin. Die Herausforderung in winterlichen Verhältnissen ist ungleich größer, erschweren doch neben den geringen Temperaturen auch der tiefe Schnee das Vorwärtskommen. Das Gepäck ist schwerer, da Kleidung und Ausrüstung den winterlichen Verhältnissen angepasst werden müssen. Im Falle einer Verletzung ist die Gefahr des Auskühlens akut, Biwaksack, Taschenofen und passende Winterbekleidung ist also kein Luxus. Und nicht zu vergessen: die Möglichkeit von Lawinen und Schneebrettern.

Bisher waren wir mehr die „Schönwetter-Bergsteiger“ im Sommer. Es ist doch ein Stück zu fahren, bis wir in die Alpen kommen, darum sollte eine Tour wegen Schlechtwetter natürlich auch nicht scheitern. Aber Bergsteigen in alpiner Winterlandschaft übt schon seit längerer Zeit einen immer größeren Reiz auf uns aus, so dass wir uns mit einer kleinen Tour rantasten wollen. Eine unserer ersten Wintertouren geht also auf den Bodenschneid.

 

Ausgangspunkt ist der Parkplatz am Spitzing-See Skilift (1129 m). Bis zur Unteren Firstalm (1318 m) geht es im Wald auf dem Weg recht schnell voran, rechts und links liegt der Schnee jedoch zwei bis drei Meter hoch… Als „Nicht-Skifahrer“ sind wir schon gespannt, was uns „offroad“ erwartet und wie wir dann weiterkommen. Als wir vor zwei Wochen zur Rotwand aufgestiegen sind, war der Weg dorthin auch als Fußgänger noch relativ einfach zu machen (nur knietiefer Schnee am Weg). Bei den Schneemassen hier sieht das schon anders aus… Als wir die untere Firstalm erreichen, queren wir am Skilift vorbei und gehen den Hang westlich am Rand entlang der Piste nach oben. Die hammerharte Schneetreterei beginnt erst, als wir die Piste Richtung bewaldeten Sattel verlassen. Pausenlos brechen wir bis zu den Knien oder sogar bis zur Hüfte im Schnee ein. Auf Dauer ist es extrem ermüdend, sich mit dem Rücksack immer wieder aus der Schneegrube rauszuarbeiten, nur um dann nach ein paar Schritten wieder einzubrechen. Dieses Spiel wiederholt sich unzählige Male, bis sich unweigerlich der Wunsch nach Schneeschuhen in die Gehirnwindungen einbrennt. Als schlechter Skifahrer bzw. Nicht-Skifahrer steht uns im Hochwinter wohl kaum eine andere Möglichkeit zur Verfügung, wenn wir ein bisschen in den Bergen unterwegs sein wollen. Wir kommen nur langsam vorwärts, aber schließlich erreichen wir den Gipfelgrat mit seinen beeindruckenden Wächten. Nach 3 ¼ Stunden stehen wir endlich am Gipfel des Bodenschneid, den ein großes Gipfelkreuz ziert.

Selten, dass wir um einen Gipfel mit dieser geringen Höhe so hart kämpfen mussten, aber eben ein Erlebnis der besonderen Art. Nach kurzer Brotzeit treten wir den Rückweg an. Nachdem nun schon im tiefen Schnee gespurt ist und es außerdem bergab geht, kommen wir deutlich schneller voran. Als wir den Wald am Sattel schon fast verlassen haben, fällt mir auf, dass der Skibetrieb eingestellt ist. Nachdem es erst früher Nachmittag ist, wundern wir uns doch. Völlig geschockt entdecken wir schließlich, dass eine etwa 200 m breite Lawine vom Bodenschneid zum Skilift der Firstalm abgegangen ist und den Skilift bis zum Dach verschüttet hat. Wir sehen zwei Hubschrauber landen, vier bis fünf Lawinensuchhunde und zig Helfer, die in den Schneemassen nach Verschütteten suchen. Wir können es gar nicht glauben! Eine Lawine, die den Skilift bis zum Dach verschüttet (immerhin drei bis vier Meter hoch). Die Ausläufer der Lawine haben auf breiter Front die Spur des Schleppliftes verschüttet, ziemlich sicher waren zum Zeitpunkt des Lawinenabganges hier Leute unterwegs. Keine zwei Stunden vorher sind wir am Skilift vorbeigegangen. Wären wir dort gestanden als die Nassschneelawine abging, wären wir vom Schnee an die Wand genagelt worden. Mehr als ein Abziehbild wäre von uns wohl nicht übrig geblieben…

 

In kurzer Zeit erreichen wir den Ort des Unglücks. Was mich wirklich erstaunt ist das absolut zielgerichtete und koordinierte Vorgehen des DAV. Jeder weiß, was er zu tun hat, nichts wird dem Zufall überlassen: eine Suchmannschaft geht in der Linie des Schleppliftes mit Sonden Stück für Stück voran; auf Kommando wird sondiert, dann Vorrücken und wieder sondieren. Hundeführer suchen die Lawine ab und eine Mannschaft schaufelt vom Rand der Lawine per Hand den Schnee weg, der von einer Pistenraupe schließlich zur Seite geschoben wird. Wir fragen in der Helferzentrale nach, ob wir irgendwie helfen können. (In dieser Situation Ehrensache). Bevor wir loslegen können, müssen wir uns erst registrieren lassen, bekommen eine Nummer zugeteilt, die wir uns umbinden und schließlich eine Schaufel. Wir schaufeln mit voller Kraft. Unglaublich, wie schwer der Schnee ist! Aber der Gedanke, dass u. U. noch jemand unter den Schneemassen begraben liegt, ist Motivation genug. In kurzer Zeit haben wir uns in die Routine eingefügt: die „Schaufler“ arbeiten sich von der Seite in die Schneemassen, eine 2 m hohe Wand wird mit den Schaufeln abgetragen, der Abraum wird in regelmäßigen Abständen von der Pistenraupe abtransportiert. Rechtzeitig, bevor die Raupe kommt, springen die Schaufler zur Seite, um die Raupe nicht zu behindern. Ist die Raupe vorbei, geht es sofort wieder an die Arbeit. Die Aufgabe der „Schaufler“ ist, möglichst viel Schnee bis zum nächsten Erscheinen des Pistenfahrzeugs abzutragen. Trotzdem geht es quälend langsam zum „Kernbereich“ der Schleppliftlinie. Nebenbei erfahren wir von anderen Helfern des DAV, das wohl nur ein oder zwei Leute von der Lawine erfasst wurden und seitlich aus der Liftspur geschoben und teilverschüttet waren. Bisher! Ob noch weitere Personen betroffen sind, weiß niemand genau. Noch immer ist die Ungewissheit vorhanden, ob nicht doch noch jemand verschüttet ist. Bei diesem betonharten Schnee mag keiner daran denken! Auch beim Schaufeln ist es ein komisches Gefühl: bei jedem „Spatenstich“ in den Schnee, besteht ja die Möglichkeit, auf einen Verschütteten zu treffen. Was ist, wenn ich den Verschütteten mit der Schaufel am Hals oder im Gesicht treffe und verletze? Also vorsichtig schaufeln, aber anderseits hat ein möglichst schnelles Arbeiten Vorrang, die größte Gefahr für die Verschütteten ist ja der Sauerstoffmangel. Bei dieser Nassschneelawine allerdings wird jeder Verschüttete vermutlich zusammengepresst wie eine Streichholzschachtel. Allein der Gedanke, beim Schaufeln auf Widerstand zu treffen, löst zwiespältige Gefühle aus…

 

Nach zwei Stunden Vollgas-Schaufeln und der Schneetreterei von unserer Tour waren wir dann ziemlich fertig. Es zeichnet sich ab, dass wohl niemand mehr vemisst wird und wir beenden unseren Einsatz. In der Firstalm gibt´s dann ein Spezi und Tee umsonst, das wir dankend annehmen. Wir sind vollkommen durchgeschwitzt und haben wirklich Durst. Es dauert einige Zeit, bis wir wieder auf normalen Level runterkommen und das Erlebte verarbeiten. So nah waren wir noch nie dran an einer Lawine, immer wieder muss ich daran denken, dass wir nur kurze Zeit vorher an dem Skilifthäuschen vorbeimarschiert waren und wenig später ist das Teil bis in 4 m Höhe mit Schnee „zubetoniert“. Als wir daran vorbeigingen, habe ich ehrlich gesagt keinen Gedanken daran verschwendet, dass hier beim Skilift, im sicheren Gebiet sozusagen, eine Lawine gefährlich werden könnte. Ich habe natürlich die Route abseits der Piste überprüft und mir Gedanken zur Hangneigung gemacht, aber eben nicht hier! Eine eindeutige Mahnung an mich, in Zukunft noch besser aufzupassen. Ein Fehler reicht und aus Spaß und Abenteuer wird ein Alptraum!!

In der Dunkelheit treten wir den restlichen Rückweg zum Auto an und fahren nach Hause. Was für ein Tag!!

Ca. 3,25 Std. rauf (für nur 540 Höhenmeter!), ca. 1,5 Std. runter.

Alle Fotos: Scan vom Dia

 

24.03.2000